Mein Kind, die Therapeutin
Wir kennen es alle. Montag, früher Abend, es regnet. Die Woche hat komplizierter begonnen als gedacht, am Heimweg ist Stau und wir freuen uns im Bus oder im Auto schon auf den scheinbar einzigen Lichtblick in dieser gefühlten Tragikkomödie: ein ruhiger Abend im gemütlichen Zuhause. Beim Betreten der Wohnung finden wir allerdings Dreckspuren, die bis zur Couch führen, die schon sehnsüchtig nach uns schreit. Der liebe Mann hat sein Handy am Ladekabel vergessen und musste es last minute holen. Zum Ausziehen der gatschigen Timberlands war keine Zeit mehr. Das war die Kirsche am Eis. Explosion. Aus einem kuscheligen Abend zu zweit wird eine Grundsatzdiskussion und der Montag ist nun völlig gelaufen. Ich denke, in so einer ähnlichen Szene haben wir uns alle schon mal gefunden.
Seit etwa 5 Monaten gibt es so etwas so gut wie gar nicht mehr bei uns. Nicht weil wir jetzt himmlische Familie spielen oder einer von uns ausgezogen ist, sondern weil wir jetzt zu dritt sind.
Mit der Geburt unserer Tochter hat sich sehr vieles relativiert und das hat mehrere Gründe.
Ein Baby holt dich besser ins „Hier und Jetzt“ als jede Meditation
Zum einen muss man sagen, für so etwas ist einfach keine Zeit mehr! Manchmal frag ich mich tatsächlich, was ich noch kinderlos, eigentlich mit meiner Zeit gemacht habe. Ich bin mittlerweile auch überzeugt, dass so manche Meckereien wohl unbewusst aus Langeweile oder unbegründeter Unzufriedenheit entstehen. Ersteres ist mit der Geburt eines Babys ausgelöscht. Abgesehen von den täglichen Herausforderungen, um ein kleines Menschenwesen am Leben UND glücklich zu halten, bringt so ein Baby eine oft verloren gegangene Wertschätzung der kleinen Dinge zurück. Es holt dich besser ins ‚Hier und Jetzt‘ als jede Meditation. Plötzlich ist jeder Baum, der sich im Winde bewegt und jeder Sonnenstrahl, der Schatten an den Wänden tanzen lässt, ganz magisch und aufregend- und das steckt an! Die Zeit bleibt dann für eine kurze Weile stehen und nichts ist wichtiger als der Moment. Für dieses kleine Stück zurückgewonnene Kindheit, die ich hier wieder leben darf, bin ich dir unglaublich dankbar, kleiner Mäusebär!
Auch die unbegründete Unzufriedenheit hat meiner Meinung nach ihren Ursprung im ‚nicht bewusst sein‘ und nicht spüren. Wenn ich mit meinen Gedanken überall bin, nur nicht in der Gegenwart, fällt es mir schwer, meinen Bedürfnissen und Gefühlen Namen zu geben und diesen dementsprechend nach zu gehen.
Vom Knöpfedrücken und den eigenen Glaubenssätzen
Ein weiterer Grund, ich sage es, wie es ist: So ein Baby drückt ganz schön die eigenen Knöpfe! Es hält einem sehr unverblümt den Spiegel vor, was einen unglaublichen (Kennen-)Lerneffekt mit sich bringt. Ich würde behaupten, ich bin ein sehr reflektierter Mensch und kenne mich und meine Eigenheiten sehr gut. Umso spannender finde ich zu beobachten, wie es mir geht und mit welchen Mustern ich reagiere, wenn mein kleines Töchterlein meine Nerven testet. Zu wissen, dass ein Baby niemals absichtlich ärgert oder verletzt, hilft natürlich bei dieser ‚Selbstreflektions-Übung’, um mit dem Herzen hinzuschauen, anstatt mit einem Impuls zu reagieren. Ich versuche also, wenn die kleine Maus meine Knöpfe drückt, kurz innezuhalten und zuzuhören. Nicht nur ihr, sondern auch meinen eigenen Gedanken.
Wirklich spannend, welche Überzeugungen, Glaubenssätze und eigene unerfüllte Bedürfnisse sich bemerkbar machen! Muss mein Kind wirklich JETZT schlafen oder durchschlafen oder spüre ich hier den Druck von unzähligen Verwandten und Bekannten, die mich jedes Mal fragen, ob sie ‚eh brav schläft‘? Was sind meine Prioritäten in diesem Moment und woher kommen sie? Vielleicht darf ich mich hier neu orientieren, alte Glaubenssätze ablegen oder vor der ‚eigenen Türe kehren‘. Denn offen gestanden, bin ich eigentlich auch kein Mensch, der gut und gerne einen Powernap am Nachmittag hält.
Zurück ins Grüne kurz vorm 3. Lockdown
Und wo wir schon beim Priorisieren sind, möchte ich anmerken, was für eine erfrischende Klarheit und Entscheidungsfähigkeit definierte Werte mit sich bringen. Um das weniger kryptisch auszudrücken: wir sind umgezogen – zurück ins Grüne!
Martin und ich sind beide Menschen, die ihre Freizeit gerne aktiv verbringen, am liebsten sportlich und entspannt in der Natur. Das Leben in der Stadt (Wien) hat perfekt zu unserem bisherigen Lebensabschnitt gepasst und hat ganz klar berufliche sowie private Vorteile, die wir doch irgendwie so ganz noch nicht aufgeben wollten. Wir sind allerdings beide am Stadtrand Wien-Niederösterreich aufgewachsen und haben eine Kindheit zwischen Weinbergen und Ententeich genossen und wünschen uns das für unseren Nachwuchs auch! Die unzähligen täglichen Spaziergänge mit unserer kleinen Frischluft-Maus haben Wunsch nach Natur vor der Tür so groß werden lassen, dass wir uns tatkräftig auf die Suche gemacht haben, nach einem Zuhause nahe der Natur. So sind wir, ich kann es selbst kaum glauben, zwei Tage vor Weihnachten, kurz vorm nächsten Covid-Lockdown, umgezogen – an einem einzigen Wochenende!
Diese zwei Tage waren offen gesagt, unfassbar anstrengend, aber mit der Entschlossenheit als Motivation und unserer Familie und Freunden war es machbar.
Zwischen Chaos und Kisten steht nun auch ein kleiner Christbaum, der gemeinsam mit dem Knistern des Ofens unser neues Zuhause kuschelig macht. Wir sind jetzt schon unglaublich glücklich, diesen doch großen Schritt gewagt zu haben und genießen die frische Luft hier draußen bei jedem Spaziergang. Unsere Kleine liebt den Wald und gluckst ganz aufgeregt über die Bäume und die Umgebung – ein wahres Naturkind eben!
„Offen gesagt, gibt es natürlich Momente, in denen ich mir wünschte, ich hätte mal einen Tag nur für mich.“
Wie man sieht, steigt mit klaren Werten und Prioritäten nicht nur die Motivation, sondern auch die Effizienz. Gut, die Zeit ist wohl auch ein Faktor, die man mit Baby kaum mehr vertrödeln kann. Niemand duscht schneller als eine Mutter allein mit Baby zu Hause! Offen gesagt, gibt es natürlich Momente, in denen ich mir wünschte, ich hätte mal einen Tag nur für mich. Um alles zu tun, zu dem ich aktuell nicht mehr komme. Unwichtige Dinge wie mir mal die Nägel mit veganem Bio-Lack zu lackieren, meine Haare mit Spülung zu verwöhnen oder Yoga zu machen, so lange ich will und ohne brabbelndem Zwerg unter mir. Ein Buch zu lesen oder auch einfach nichts zu tun.
Wenn ich diese Zeilen so tippe, klingt das in der Tat sehr verführerisch. Mit einem Auge und einem Ohr bei meinem Baby, das mit seinem Holzbeissring in der einen Hand und ihren Zehen in der anderen Hand glücklich und zufrieden neben mir spielt, wird mir gleichzeitig bewusst, wie unglaublich reich an Liebe und Abenteuer mein Leben ist und wie viel ich täglich schaffe. Ich glaube, es wird Zeit, auch hier mal innezuhalten und sich dem bewusst zu sein. Ich möchte, dass auch du dir an dieser Stelle auf die Schulter klopfst und dir bewusst bist, wie viel du als Elternteil leistest und wie toll du deinen Job machst!
2020, Du warst so gut zu mir
Das Jahr 2020 wird zweifelsohne in die Geschichte eingehen. Nicht nur, weil wir alle in einem noch nie da gewesenen Ausnahmezustand leben und das beste daraus machen. Sondern weil uns das Leben eine Tochter geschenkt hat. Ein kleines Wesen, das uns inmitten all dem Chaos und der Unsicherheit das Bewusstsein und die Magie zurückbringt. Uns weicher werden lässt mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Das mich morgens nach einer langen Nacht anlächelt und mir den manchmal anstrengenden Alltag mit Spuckeblasen versüßt. Das mein Herz erfüllt und mich Verständnis lehrt.
Ich wünsche mir, dass du für dich selbst dieser Mensch sein kannst. Dass du dein ‚inneres Kind‘ öfter mal raus lässt und dir selbst und anderen gegenüber nicht immer so streng bist.
Ich wünsche uns allen, dass wir mit positiven Aussichten und Neugierde ins neue Jahr gehen und im Zweifelsfall mal die Zeit vergessen und innehalten. Die Natur ist ein perfekter Ort, um zu üben.
In diesem Sinne wünsche ich dir ruhige Tage und einen guten Start ins neue Jahr 2021!
Wir lesen im Januar voneinander.
Jasmin Spanitz
Die Löwenmama
Mit Hormonen und ganz viel Ur-Instinkten macht uns die Natur wie von Zauberhand zur Löwenmama. Jasmin erzählt über ihren Weg, wie unbändige Stärke, Kraft und Sicherheit ganz von alleine kamen und warum sie auch mal sanft brüllen kann.
UND: kraftvolle Löwinnen stecken nicht nur in Mamas sondern in jeder einzelnen Frau.
9 months in, 9 months out
Neun Monate im Bauch, neun Monate auf der Welt. Jasmin zieht Resümee über eine Zeit, die ihren Körper und Geist geformt hat, wie nie zuvor. Sie berichtet über Pigmentflecken und Höchstleistungen und warum man sich als Frau feiern sollte.
Wie Du das Muttersein nicht nur überlebst, sondern auch genießt
Mama-Kolumnistin Jasmin macht kein Geheimnis daraus, dass der Alltag einer First-time-Mom hart sein kann. Sie gibt Dir ihre 10 persönlichen Survival-Tipps für ein achtsames und freudvolles Leben als Mama.
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